Peter Bierl: Die Revolution ist großartig, Münster 2020
Ukraine, Palästina, Syrien, Jemen, Myanmar, Belarus, Iran - wohin man auch schaut, Kriege und Unruhen - und jetzt soll Revolution großartig sein? Und warum ist eine überzeugte Marxistin die Ikone der Partei DIE LINKE?
Revolution - heute noch? In unserem zivilisierten, kultivierten, demokratischen Zeitalter die Guillotine aufstellen, wie damals in Frankreich? Oder mangels einer Zarenfamilie die Porsches, Klattens und Quandts aus dem Weg räumen? Echt jetzt?
Rosa Luxemburg schrieb tatsächlich: "Die Revolution ist großartig - alles andere ist Quark." [1] Zeigt sich hier die "blutige Rosa", wie sie von ihren Gegnern diffamierend bis heute genannt wird? Ganz im Gegenteil.
Peter Bierls Buch „Die Revolution ist großartig: Was Rosa Luxemburg uns heute noch zu sagen hat“ ist eine tiefgehende - aber leicht lesbare - Auseinandersetzung mit dem Erbe und den politischen Ideen Rosa Luxemburgs. Bierl, selbst Journalist und politisch engagierter Autor, schafft es, Luxemburgs Werk und dessen Relevanz für aktuelle gesellschaftliche Fragen wie soziale Gerechtigkeit, Kapitalismus und Demokratie aus 8 verschiedenen Blickwinkeln leicht lesbar zu beleuchten.
Erfrischend anders gleich im Vorwort: »Bis heute wird Luxemburg an vielen Stellen einfach als "Rosa" bezeichnet, ohne Familiennamen, und das nicht nur, wenn es um ihre Kindheit geht. In der Verwendung des Vornamens drückt sich Distanzlosigkeit und Verkleinerung aus. Niemand würde von Karl, Friedrich oder Wladimir schreiben, wenn Marx, Engels oder Lenin gemeint sind.«[7] In 8 Kapiteln, die jeweils zentrale Themen behandeln, schreibt Bierl z.B. über Luxemburg "zwischen Verehrung und Verdammung", über ihre Auffassung von Marxismus, Demokratie - Selbstorganisation - Emanzipation und ihr Konzept "revolutionärer Realpolitik".
Randnotiz:
Mit der Benennung nach dieser Frau nimmt die Rosa Luxemburg-Stiftung der Partei DIE LINKE neben den vielen Parteistiftungen mit ausschließlich männlichen Namensgebern eine Sonderstellung ein. Vorstellbar wären ja auch eine ganze Reihe Namen männlicher Altvorderer gewesen. Und für eine ostentative Hervorhebung weiblicher Emanzipationsbestrebungen hätte es ja auch Namen wie Clara Zetkin oder Alexandra Kollontai gegeben.
Warum also gerade Rosa Luxemburg?
Zunächst: Sie war eine streitbare Frau - ein Grund für ihren Erfolg wie auch die Missgunst der Anderen (Männer). Peter Hudis - der us-amerikanische Herausgeber ihrer Schriften - charakterisierte sie an anderer Stelle einmal so: "Sie ließ sich von niemandem etwas bieten. Sie war Polin, Jüdin, Frau und hatte eine Körperbehinderung - "4 Strikes already" - die sich trotzdem in kürzester Zeit in die Führungsetage der SPD, der damals größten sozialdemokratischen Partei der Welt, emporarbeitete. Das war im Gegensatz zu vielen Selbstdarstellern, die uns auch in der heutigen Politik sicher spontan einfallen, nicht nur ihrer Power und ihrer Wortgewandtheit geschuldet. Sie war auch eine ausgesprochen kluge und gebildete Marxistin.
Doch zurück zum Buch:
Bierl gelingt es, die Vielschichtigkeit Luxemburgs klar herauszuarbeiten und gleichzeitig ihre Bedeutung für heutige linke Bewegungen aufzuzeigen. Luxemburgs Kritik an Lenin brachte ihr in den stalinistischen Jahrzehnten eine zweischneidige Verehrung zwischen abstraktem Denkmal einerseits und andererseits Ablehnung der Gegnerin von Zentralismus und autoritären Formen des Marxismus ein. Ihre Vision einer sozialistischen Demokratie ist heute noch inspirierend. Ihre Forderung nach einer „wehrhaften sozialistischen Demokratie“, die von der Masse der Arbeiterklasse selbst getragen werden muss, ist ein Plädoyer gegen eine wie auch immer geartete avantgardistische und bevormundende Parteiführung und für eine Form der sozialen Veränderung, die auf Mündigkeit und Selbstorganisation der Vielen setzt.
Allgemein bekannt ist die "Revisionismus-Debatte" - Luxemburgs Auseinandersetzung zwischen 1898 und 1904 mit Eduard Bernstein und dem wachsenden Reformismus in der SPD. Darüber hinaus widmet Bierl auch ein Kapitel der „Akkumulation des Kapitals“, einem Werk, in dem Luxemburg die wirtschaftlichen Widersprüche des Kapitalismus untersucht und dessen Zusammenbruch als unvermeidlich darstellt. Hier setzt sie sich kritisch mit den Mechanismen der Kapitalverwertung und der Rolle nichtkapitalistischer Gesellschaftsbereiche dabei auseinander. Auch wenn sie damit auch - wie so viele andere - die faktische Überlebensfähigkeit des Kapitalismus gewaltig unterschätzte, wurden diese Ideen trotzdem später für Theorien über Imperialismus und Neokolonialismus bedeutsam, und Bierl zeigt auf, wie aktuell Luxemburgs Kritik an der Ausbeutung nichtkapitalistischer Sphären auch heute noch ist, etwa in Bezug auf Globalisierungs- und Umweltdebatten.
Ein weiterer zentraler Punkt für Bierl ist Luxemburgs Konzept des Massenstreiks, den sie als eine selbständige Form des Arbeitskampfes und als strategisches Mittel verstand, um sowohl Reformen zu erzwingen als auch gleichzeitig revolutionäre Prozesse voranzutreiben (Reform UND Revolution). Bierl zeigt, dass Luxemburgs Haltung zum Massenstreik mehr war als nur eine taktische Option: Sie sah darin die Möglichkeit, das Bewusstsein der Arbeiterklasse zu schärfen und den Klassenkampf aktiv voranzutreiben. Besonders im Vergleich zu Lenin hebt sich Luxemburgs Ansatz ab; während Lenin auf eine straff organisierte Partei setzte, bestand Luxemburg darauf, dass echte sozialistische Veränderungen nur durch die aktive und bewusste Teilnahme der Massen selbst möglich seien.
Widerspruch fordert Bierl geradezu heraus, wenn er behauptet, Luxemburg habe in ihrem gesamten Werk nur ein einziges Mal den Begriff "revolutionäre Realpolitik" benutzt und dieser habe »keine weitere Bedeutung für ihr Werk«. Wo er doch selbst an vielen Stellen die luxemburgische Forderung nach ständiger Verknüpfung zwischen tagespolitischer Reform und langfristiger Revolution erklärt. Andere kompetente Autor:innen, wie Michael Brie und Frigga Haug betonen dieses Konzept und zitieren Luxemburg z.B. mit: »Für die Sozialdemokratie besteht zwischen der Sozialreform und der sozialistischen Revolution ein unzertrennlicher Zusammenhang, indem ihr der Kampf um die Sozialreform das Mittel, die soziale Umwälzung aber der Zweck ist. (Luxemburg, GW 1/1: 369)«[2] In seiner diesbezüglichen Unkenntnis steht Bierl allerdings nicht allein da. Frigga Haug nennt z.B. selbst mit Antonio Gramsci einen weiteren Autoren, der »offenbar Luxemburgs, von ihr als revolutionäre Realpolitik bezeichnete Alltagspolitik nicht {kennt}.«[3] Und das, obwohl von Haug mit dem Begriff "Linie Luxemburg-Gramsci" viele Parallelen zwischen diesen beiden ausgemacht werden.
Bierl ist aber zuzustimmen, wenn er Luxemburgs Ideal einer demokratischen, von der Basis getragenen Organisationsform der Partei hervorhebt, während Lenin und andere Revolutionäre ihrer Zeit eine straffe, zielgerichtete (und elitäre) Struktur befürworteten. Denn sie wollte keine formalisierte, von einer Führungselite gelenkte Partei. Und sie wollte auch keine weitere "bürgerliche" Revolution - egal ob jakobinisch oder bolschewistisch[5]. Sie sah den echten sozialistischen Wandel nur durch die selbstbestimmte und aktive Teilnahme der Arbeiterklasse selbst als möglich an. Dies brachte sie in harte Auseinandersetzungen mit Lenin, der zwar anerkennend über Luxemburg sagte, sie sei „ein Adler“ gewesen [4], ihre Ideen zur Freiheit der politischen Massenbewegung kritisierte er jedoch als zu wenig zielgerichtet und strukturiert.
Bierl schreibt: »Eine selbstkritische Aufarbeitung müsste sich jedoch damit auseinandersetzen, warum Luxemburg diese Revolution {die russische /RWg} bereits Mitte Dezember 1918 für gescheitert erklärte. Sie beharrte darauf, dass eine soziale Revolution nur von einer überzeugten Mehrheit der Bevölkerung ausgehen und getragen werden könne, die sie jedoch als nicht gegeben ansah. Überdies kritisierte Luxemburg als eine der ersten bereits im Oktober 1918 die autoritäre Deformation der Oktoberrevolution. Beides hatte Konsequenzen. ...«[6]
Wenn Zeit dafür war, zeichnete Luxemburg auch. In ewiger Wiederholungsschleife sind die wenigen von Rosa Luxemburg erhaltenen Fotografien zu sehen - ganz selten nur dieses Selbstportrait* [8] Sie war bekanntermaßen auch eine große Naturliebhaberin. Hier eine Seite aus dem von ihr selbst angelegten Herbarium
Für Luxemburg war die Revolution nicht einfach eine Option oder ein letzter Schritt zum Kommunismus, sondern die permanente - heutige - dialektische Verbindung zwischen Reform und Revolution als notwendiger Methode im Klassenkampf, um die Menschheit aus den Fesseln des Kapitalismus zu befreien. Das ist etwas komplett anderes als eine bürgerliche Revolution nach dem Vorbild der französischen oder russischen.
Weil Kapitalismus aber auch grün angesprayed Kapitalismus bleibt, inkl. Wachstumszwang, Konkurrenz und Ausbeutung, gibt es zu einem Systemwechsel keine Alternative. Luxemburgs Aussagen und Handlungen, ihre berühmten Sätze über die Freiheit des Andersdenkenden oder „Revolution ist großartig – alles andere ist Quark“ und die tiefe Überzeugung, dass die Masse der Arbeiter selbst über die Zukunft bestimmen müsse, zeichnen das Bild einer radikal demokratisch-sozialistischen Denkerin, die auch heute gelesen werden sollte. Bierl legt die Relevanz von Luxemburgs Denken in der heutigen Zeit offen, kritisiert jedoch auch einige ihrer Positionen und zeigt die Herausforderungen auf, die mit ihren Ideen verbunden sind. Sein Buch ist eine wertvolle Ressource für alle, die sich mit revolutionären Bewegungen, Demokratie und den sozialen Kämpfen des frühen 20. Jahrhunderts im Interesse ihrer eigenen, heutigen Kämpfe auseinandersetzen wollen.
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[1]: Luxemburg Brief an Mathilde und Emanuel Wurm vom 18.07.1906; GB, Bd. 2, Berlin 1984: 259
[2]: Frigga Haug - Rosa Luxemburg und die Kunst der Politik: 59
[3]: Frigga Haug - Rosa Luxemburg und der Weg, der zu Gramsci führt und über ihn hinaus: 209
[4]: Jörn Schütrumpf zufolge war das aber ein vergiftetes Kompliment, da Lenin sie als Adler unter «Hühner{n a}uf dem Hinterhof der Arbeiterbewegung {...}, zwischen den Misthaufen» betrachtete, vgl. Schütrumpf (Hrg.) et.al.: Mit den Kommunisten können wir ... : 2, (Originalzitat in Lenins Werke 33, Notizen eines Publizisten: 195)
[^5]: Luxemburg - Zur russischen Revolution: 362: »Lenin-Trotzki entscheiden sich ... für die Diktatur im Gegensatz zur Demokratie und damit für die Diktatur einer Handvoll Personen, d.h. für bürgerliche Diktatur.«
[^6]: Peter Bierl - Die Revolution ist großartig: 11
[^7]: Peter Bierl - Die Revolution ist großartig: 7
[^8]: gefunden auf [Gerd Stange: Ein Gartenstück für Rosa Luxemburg 2004-2008](https://www.gerdstange.de/projekte/gartenstueck-gerd-stange) https://www.gerdstange.de/projekte/gartenstueck-gerd-stange, abgerufen 17.11.24