Buchvorstellung: Engels neu entdecken - von Elmar Altvater

Roland Wiegmann

»Ich spielte in unserer Partei stets nur die zweite Geige, und das mit voller Absicht« beschrieb Friedrich Engels 1893 einmal seine Rolle im Verhältnis zu Karl Marx. Dass er bewusst im Hintergrund agierte und Marx als den führenden Kopf ihrer gemeinsamen intellektuellen Arbeit ansah, war aber zweifellos ziemlich untertrieben. Dass Familie Marx so manches Mal rein physisch nur durch die finanzielle Unterstützung Engels' überlebte, ist ja bekannt (nicht nur ein Brief von 1882 enthielteinen Scheck im heutigem Wert von ca. 7 Tsd. Euro) - auch, dass er durch einen regen Briefwechsel an allen Ideen von Marx intensiv beteiligt war und die beiden bahnbrechende Texte gemeinsam schrieben. Nicht zuletzt, dass 3 - blaue - Bände des Kapitals überhaupt erschienen, war seiner Fähigkeit geschuldet, einer von höchstens einer Handvoll Menschen zu sein, welche die Handschrift von Marx nach dessen Tod überhaupt entziffern konnten und seiner Bereitschaft, Jahre seiner eigenen wissenschaftlichen Forschung der posthumen Herausgabe der Marxschen Schriften zu opfern.

Engels' Bedeutung darüber hinaus hebt Elmar Altvater in diesem - hellblauen - Bändchen (im Folgenden ("A.: ...") apodiktisch hervor: »Friedrich Engels war es, der den Marxismus erfand« (A.: 11). Obwohl Marx und Engels sich erstmalig schon 1842 begegneten, begann diese ungewöhnliche Freundschaft mit 10 Tagen des intensiven Austauschs erst 1844. Ein Jahr später schon erschien Engels' "Die Lage der arbeitenden Klasse in England" ein bahnbrechendes Werk in der sozialistischen Literatur - streckenweise spannend wie ein Kriminalroman - eine, wie Altvater schreibt »mitreißende Anklageschrift gegen die verheerenden ökonomischen, ökologischen und sozialen Begleiterscheinungen der Akkumulation des Kapital in der sich herausbildenden Industriegesellschaft«. An dieser Stelle sei nicht (wie so oft und auch von Altvater) vergessen, dass es die irische 'Gastarbeiterin' Mary Burns war, die ihrem Lebensgefährten Friedrich Engels für seine Recherchen Zugang zu den realen Lebensbedingungen der Arbeiter:innen Manchesters verschaffte. Seine Analyse und Beschreibung der unsäglichen Lebens- und Arbeitsbedingungen im Manchesterkapitalismus wurde sogar von der UNESCO als "Meisterstück ökologischer Analyse" bezeichnet - wohlgemerkt: nicht ökonomischer oder sozialer, sondern ökologischer Analyse. Und man möchte hinzufügen: Und das schon vor 180 Jahren!

Bis dato hatte sich Marx eher mit philosophischen Fragen auseinander gesetzt. Erst danach las er

Ökonomen wie Adam Smith und David Ricardo und veröffentlichte erst 1847 mit „Lohnarbeit und Kapital“ einen Text, der einige grundlegende Konzepte des 'Kapital' enthielt. Engels sogenannten 'Anti-Dühring' (1877/78) bezeichnet der Dietz-Verlag, in welchem die Marx-Engels-Werke erschienen - zu recht als 'Grundlagentext des Marxismus schlechthin'. Für so manch eine:n war diese Polemik, in der z.B. Dialektik zu einem Prinzip erklärt wird, welches nicht nur Geschichte, sondern auch Natur bestimmt, so etwas wie die Übersetzung des Marxschen Kapitals von 1868 in verständliche Sprache, Lenin nannte den Anti-Dühring (MEW20) gar das 'Handbuch für klassenbewusste Arbeiter'. In jahrelangem Studium naturwissenschaftlicher Fragen arbeitete Engels von 1873 bis 1886 an seiner 'Dialektik der Natur' (auch MEW20, erst 1925 posthum veröffentlicht), in der er die damals neuesten naturwissenschaftlichen Erkenntnisse z.B. über die Thermodynamik behandelte. »Entropie kann nicht auf natürlichem Wege zerstört, aber wohl gemacht werden. Die Weltuhr muß aufgezogen werden, dann läuft sie ab, bis sie ins Gleichgewicht gerät, aus dem nur ein Wunder sie wieder in Gang bringen kann.« (MEW20: 545). »Alle Energie, die jetzt auf der Erde tätig, verwandelte Sonnenwärme« (MEW20:513 in A.: 83).

»Heute würden wir sagen: Engels entwickelte ein zu seiner Zeit ungewöhnliches Interesse für das Beziehungsgeflecht zwischen Ökonomie und Ökologie im Zusammenhang der kapitalistischen Produktionsweise und in den Wissenschaften, und zwar nicht nur in den Sozialwissenschaften und in der Philosophie, sondern auch in den Naturwissenschaften« (A.: 14). Und: »Engels erkannte ... die negativen Wirkungen der kapitalistischen Entwicklung seiner Zeit auf die Natur, auf die Gesellschaft und auf die Lebens- und Arbeitsbedingungen der Arbeiterklasse. Dabei war ihm die Unterschiedlichkeit der Wirkungen auf Arm und Reich und auf die Geschlechter sehr bewusst« (A.: 78). »Das Verständnis der "Dialektik der Natur", sowohl in ihrer materialen, geschichtlichen Entwicklung als auch in der wissenschaftlichen Erforschung ihrer Bewegungsgesetze und der daran anschließenden Theoriebildung, wurde von Engels und Marx immer als integraler Bestandteil einer kritischen, emanzipatorischen Wissenschaft betrachtet. Die Kritik der politischen Ökonomie, zweifellos die Hauptstoßrichtung des 'wissenschaftlichen Sozialismus', kann nicht auf eine Kritik der gesellschaftlichen Naturverhältnisse verzichten.« (A.: 20) Engels unterscheidet in seiner 'Dialektik der Natur' den Menschen von der übrigen Tierwelt: »Nur der Mensch hat es ... fertiggebracht, der Natur seinen Stempel aufzudrücken, indem er nicht nur Pflanzen und Tiere versetzte, sondern auch den Aspekt, das Klima seines Wohnorts, ja die Pflanzen und Tiere selbst so veränderte, dass die Folgen seiner Tätigkeit nur mit dem allgemeinen Absterben des Erdballs verschwinden können.« (MEW20: 322 f.) Natürlich kommt auch das Denken des Buchautors und als ökologischen Marxisten Vordenkers einer ganzen Generation, Elmar Altvater (1938-2018), im hellblauen Bändchen nicht zu kurz. Demnach könnte nur im Rückgriff auf den Marx’schen Theorieansatz, der um die modernen Erkenntnisse in den Gesellschafts- und Naturwissenschaften zu erweitern und zu ergänzen ist, eine Zukunftswissenschaft entstehen, mit der den Herausforderungen des Anthropozän begegnet werden kann, mit der die Gestaltung einer alternativen solaren Gesellschaft vorbereitet werden kann (Altvater, Emanzipation, 2013: 85). Heute kristallisiert sich immer weiter heraus, dass ein Ausweg aus der Klimakatastrophe nur zu haben ist mit Überwindung von Konkurrenz und kapitalistischem Wachstumsfetisch. Lassen wir die "Zweite Geige" -Friedrich Engels - dafür lauter werden, wenn er sagt: »Schmeicheln wir uns indes nicht zu sehr mit unsernmenschlichen Siegen über die Natur. Für jeden solchen Sieg rächt sie sich an uns. Jeder hat in erster Linie zwar die Folgen, auf die wir gerechnet, aber in zweiter und dritter Linie hat er ganz andre, unvorhergesehene Wirkungen, die nur zu oft jene ersten Folgen wieder aufheben.« (MEW20: 452 f.)

Altvaters hellblaues Bändchen "Engels neu entdecken" ist da ein prima Einstieg.

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